Das Eisreich
Dies ist, was überdauert hat.
Alles, was noch bezeugt werden kann, von den Letzten des alten Volkes.
Fünfzehn Tagesmärsche entfernt der südlichen Grenze zum Ödland, inmitten des Landes, erhebt sich ein Gebirge, welches einen Talkessel umschließt. In diesem Talkessel wurde vor aller Zeit eine gewaltige Stadt erbaut.
Nedjement. Eine prächtige Stadt, reich und voller Leben. Sinnbild seiner Bewohner; eines Volkes in der Hochblüte der Kultur.
Heute ist sie tot und entvölkert.
Nedjement ist nicht zerstört. Kein Krieg, keine Naturkatastrophe suchte sie heim. Und doch ist sie für alle Zeit verloren, das reiche Land unter ewigem Schnee vergraben und von Eis erstarrt.
Das einzige Leben dort heute, sind die Eisdrachen. Und ihr Blut ist, was der Stadt einst zum Verhängnis wurde und diese gefangen hält.
Die letzten des alten Volkes berichten, wie es kam, dass alles, was sie ausmachte dem Untergang anheimfiel.
Ihr letzter Herr und Gebieter, Beschützer ihrer Stadt, begann einst nach Wissen und Macht zu trachten, um sein Volk vor allen Gefahren schützen zu können. So edel sein Ansinnen, so verheerend wurde sein Wunsch. Die Hochelfen, welche weiter im Süden lebten, aber in Freundschaft zu den Menschen im Norden verbunden waren, warnten davor zu viel zu
wollen. Doch sie blieben ungehört. Der Herr der Stadt erwiderte, die Elfen fürchteten die Menschen könnten ihrer Macht gleichkommen und sie wünschten niemanden neben sich. Er und die Seinen schlugen ihre Warnung in den Wind.
Seine Ziele längst vergessen, suchte er in allen Sphären nach einem Artefakt größter Macht. Nicht mehr zu sagen ist, wie er es schließlich fand, aber er fand es und von diesem Tage an verging was einst blühte.
Jede Macht hat ihren Preis, so warnten die Elfen, gemahnten an die Vernunft und die Mäßigung.
Der Preis jener Macht war, dass sie Leben einfordert.
Für jede Anwendung, für jede Tat, Leben von gleichem Wert!
Selbst der umsichtigste Magier kann nicht bestimmen wer leben darf und wer nicht, ohne die Grenze der Verderbtheit zu überschreiten.
Der Herr der Stadt verlor jeden Bezug zur Welt und zu seiner Bestimmung als ihr Diener und Beschützer und mordete zügellos mit jeder unnötigen Nutzung seiner Macht. Die Menschen taten, was sie konnten, schreckten schließlich auch vor der Tötung ihres einstigen Herrn nicht zurück.
Doch sie konnten ihn nicht überwinden. Der Körper starb, der Magier blieb zurück. Verzweifelt wandten die Menschen sich an die Elfen, die einzigen deren Wissen groß genug sein musste, um einen Weg zu finden ihn aufzuhalten.
Die Elfen halfen. Doch nur weil der Magier dereinst nicht nur das Volk der Menschen bedrohen würde und es aller Weisen Pflicht ist das in ihrer Macht stehende zu tun, um größtes Unheil zu verhindern.
Der Preis für die Bezwingung des Magiers würde jedoch ebenso hoch sein, prophezeiten sie. Da er den Tod überlistet hatte, musste er gebannt werden.
Der Hort der Macht, der Drachenschädel, durch Magie verkleinert, den der Magier bei sich trug, war seine Stärke und Schwäche zugleich.
Ein Mensch musste den Drachenschädel an sich nehmen, neuer Körper des Magiers und, durch seine Sterblichkeit, Gefängnis für ihn werden.
Schweren Herzens wählte eine Menschentochter den Opfertod. Unter Aufbietung aller ihnen zur Verfügung stehender Kraft bereiteten die Elfen und Menschen ihr den Weg zum Drachenschädel, den sie an sich nahm und somit den freien Geist des Magiers in ihren Körper zwang. So geschehen legten die Magier der Elfen und Menschen sogleich den Schlaf des Eises über die Stadt und mit in ihr die junge Frau, so kalt und durchdringend, dass das ganze Land erfror.
Und auf das der Magier niemals freikäme, banden sie die stärksten Kreaturen ihres Wissens an den Zauber. Die Eisdrachen leben seither in der Stadt. Solange sie alle leben, bleibt der Magier gefangen.
Als es getan war, zogen die Elfen sich aus der Welt zurück und entfernten sich von den Menschen, welche sie so maßlos enttäuschten. Die nun heimatlosen Menschen brachten, was sie bei sich tragen konnten, auf ihre Schiffe und zogen auf den Flüssen gen Süden, tiefer in das Land, oder weiter in den Norden, um neue Städte zu bauen, in welchen sie das Wissen um ihre traurige, selbstverschuldete Vergangenheit zu bewahren trachteten, auf das sich ihre Fehler nie wiederholten.
Und über die Wahrheit des Eises, und warum kein Mensch dorthin gehen soll.
Eine Gruppe blieb an den Grenzen des Eislandes zurück, um sie zu bewachen, für alle Zeit. Doch viele der Schiffe gingen auf dem Weg in den Süden verloren. Sie sanken, blieben im Eis stecken, wofür sie nicht gebaut worden waren, und das Wissen ging verloren. Was aus den
Andurin – Legenden und Erzählungen
Schiffen, die gen Norden zogen wurde weiß niemand, man erhielt niemals Kunde oder Zeugnis von ihnen.
Heute, ungezählte Jahre später, leben die letzten der Grenzwächter noch immer an den Gestaden des Eislandes. Doch die Härte ihres Lebens, ihr beständiger Kampf gegen die Kälte, die wolfsartigen Raubtiere, welche mehr als bloße Tiere zu sein scheinen da so geistreich, wenn man es vor den Göttern so nennen mag, haben sie ihr Erbe vergessen lassen. Die tödliche Kälte im Norden hält das Land seither gefangen.
Leise geht das Leben dort vor sich, keines Menschen Fuß betrat die Stadt mehr. Schneehasen, Mammuts und die Eishirschherden ziehen durch das Weiß. Stürme fegen darüber hinweg, gefrieren im Winter tauen im Sommer, verändert beständig das Angesicht des ewigen Eises.
Ein grausamer Frieden.
Zu finden ist die Stadt heute nur noch mit der Hilfe der Grenzwächter, welche das Leben von Eisnomaden leben. Doch sie würden niemanden dorthin führen, denn auch wenn sie die Geschichte nur in ihren Legenden kennen, sie von Generation zu Generation weitererzählen, wissen sie doch, dass die Stadt und der Zauberer gebannt in der jungen Frau, für alle Menschen verboten ist.
Für alle Zeit.
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